Daedalus Wien

Foucaults Pendel und die Riesin Mnemosyne

Günter Metken

Die Transmediale Gesellschaft Daedalus, 1984 in Wien als Forum für Entdeckungen im Raum der Künste, des Denkens und der Historie gegründet, hat mit Ausstellungen, Raum- und Urbaninstallationen, Filmen und Symposien Verlaufsspuren der Moderne und Tendenzen der Gegenwartskunst freigelegt.

Die Vielfalt der Konzepte ist dem Genauen und der Vision verpflichtet, noch die kleinste Manifestation bewahrte den Glauben an den Extrempunkt der Poesie. So wie man keine ästhetischen Hierachien akzeptiert, so gibt es für Daedalus auch keine Rangordnung der Gattungen.

Die Arbeiten der Jahre 1984–2010 sind entlang der Erkundungen in europäischen Kunstsammlungen und Ateliers, durch akribisches Quellenstudium in Archiven und im Dialog mit Künstlern, Gelehrten und Philosophen enstanden. Die dabei aufgefundenen Materialien wurden in Museen, Galerien und im urbanen Raum installiert. Als spezielles Charakteristikum kann die Wien-Ethnologie und Wien-Archäologie gelten.

Michel Foucault galt der erste Auftritt von Daedalus im Jahr 1984 1 . Seither zieht sich sein Denken als Leitstil durch die Vorhaben der Transmedialen Gesellschaft. Sicher war der französische Philosoph die Schubkraft, die das Unternehmen richtig in Gang brachte. Foucault verstand und erlebte sich als Menschen der Leidenschaft. Sein Denken übte Gewalt aus, weil es sich, wie Gilles Deleuze bemerkt hat, „außerhalb des Wiedererkennbaren und Sicheren“ bewegte.

Denken als gefährliche Übung, bei der es um Leben und Tod, um Vernunft und Wahnsinn ging – die Parallele mit Friedrich Nietzsche ist nicht zufällig. Ein Denken auch, das sich von Entdeckung zu Entdeckung in Krisen fortbewegte, also künstlerisch angelegt war.

Es brachte nicht nur, oder nicht in erster Linie, Theorien hervor, sondern  deckte Abhängigkeiten Machtverhältnisse, Probleme des Wissens und der von ihm ermöglichten Rede auf. Zwar geschah dies an historischen Epochen, erfolgte aber immer im Blick auf die Gegenwart. Das Entstehen geschichtlicher Formen interessierte Foucault als Voraussetzung unseres eigenen Verhältnisses zur Macht, zu den Strafen, zur Sexualität. Daß es hier um einen leidenschaftlichen, einem umstürzenden Denker um die Suche nach einer neuen Lebensweise, einem neuen Stil ging, machte ihn zur Antriebsenergie für die Bewegung, welche Daedalus in die geistige Trägheit Mitteleuropas zu bringen gedachte. Zumal er vom gewöhnlichen Menschen aus argumentierte, dem ‚homme infâme‘, einem x-beliebigen Stäubchen. Foucault benützte das ‚on‘, das ‚man‘ des Nouveau Roman für diesen Namenlosen, der plötzlich mit der Macht zusammenstößt, durch einen Zufall – eine Beschwerde, eine Ermittlung, einen Prozeß – ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt, zum Sprechen gebracht wird – eher Tschechow als Kafka, sagt Deleuze.

Michel Foucaults griffige Buchtitel drücken aus, was gemeint ist: „Wahnsinn und Gesellschaft“, „Die Geburt der Klinik“, „Überwachen und Strafen“, „Sexualität und Wahrheit“. Sofort erkennt man, wo die Macht ist und welcher Werkzeuge sie sich bedient: Reglementierung, Einsperren, Verkümmernlassen der Armen, Unangepaßten, aller jener, welche die von Gott oder seinen hiesigen Prokuristen erlassene Ordnung ignorieren. Daraus resultiert das Wuchern von Asozialität, Monomanie, Kriminalität an den Rändern der Stadt, des Staates, der Gesellschaft und ihres Juste milieu.Von fernher auferlegt, bleiben ihr Verhaltenskodex , ihre juristischen wie ästhetischen Regulierungen dem ‚homme infâme‘ als Subjekt ohne Identität fremd.

Sein Denken begriff Foucault als Kriegsmachine. Im Grunde ließ er lauter gelehrte Pamphlete los, Brandmunition. Daedalus hat diese Archäologie des Wissens als ganzheitliche Anregung aufgefasst, ihre Anstöße in visuelle Feldforschung und künstlerische Spurensuche umgesetzt.

Mnemosyne wurde 1993 zum Leitmotiv der Ehrung für Aby Warburg in der Wiener Kunstakademie. 2  Mnemosyne, die kulturelle Erinnerung, war die Hausgöttin Warburgs. Himmelsschau und Mnemosyne-Atlas wurden von Daedalus zur Ausstellung vereinigt, die um die Bibliothek zentriert ist und von dem französischen Künstlerpaar Anne und Patrick Poirier in Szene gesetzt wurde.

Mnemosyne, eine Titanin, schlief laut griechischer Überlieferung neun Tage mit Zeus und gebar ihm dafür die neun Musen. Für  Warburg war die Riesendame mit dem zungenbrecherischen Namen die Schutzpatronin seiner Suche. Unter ihrem Namen, der Erinnerung bedeutet und die Künste als Kinder des Gedächtnisses nobilitiert, gedachte er ein Werk zu veröffentlichen, das seine Forschungen wie in einem Bilderatlas auffächern sollte.

Es ging um das Weiterleben antiker Formen über den Humanismus und Barock bis in die Gegenwart. Warburg suchte darin nach wiederkehrenden Strukturen, nach Konstanten des Ausdrucks als einer Art Menschheitspsychologie. Daedalus unternahm als typische Mnemosyne- Arbeit die Rekonstruktion der Tafeln. Stellenweise erinnert das an Photomontage und Film, deren Siegeszug Warburg ja als Zeitgenosse miterlebte. Was er da auf Reisen, in Hotelzimmern schuf, die Bilder beschneidend, umordnend, war in Wirklichkeit Kunst: visuelle Sequenzen, Rhythmen, die einen in Schwung versetzen, gleichsam tänzerisch überwältigen, wobei die Argumentation manchmal forciert, ihre Schlüssigkeit dem Linienfluß untergeordnet wird: ikonographische Weissagung aus dem Geist der Musik.

Museum vom Menschen. Edition Daedalus 1996.

 1. Der Staub, der der Wolke trotzt. Michel Foucault.
Museum des 20. Jahrhunderts, Wien / Studio Molière / Galerie Winter, Wien.

 2. Mnemosyne. Aby Warburg.
Akademie der bildenden Künste, Wien / Deichtorhallen, Hamburg.


Ausstellungen · Publikationen · Präsentationsorte, Wien

Chronologie

1984 Der Staub, der der Wolke trotzt. Michel Foucault.
Museum des 20. Jahrhunderts / Studio Molière / Galerie Winter.

1985 Der Bettler aus Livorno. Die Gesichter des Amedeo Modigiani.
Theseustempel / Palais Glam Gallas, Salle de Bal / Reithalle des Wiener Reitinstitutes.

1986 Ein kleines Ja und ein grosses Nein. George Grosz.
Museum des 20. Jahrhunderts.

1986 Die Gesetze der Gastfreundschaft. Pierre Klossowski.
Galerie Winter.

1986 Geschichten zu Cy Twombly.
Theseustempel / Tennisklub Schönbrunn / Akademie der bildenden Künste.

1986 Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau. Barnett Newman.
Albert Schweitzer-Haus.

1986 Gestern Flugsand. Alberto Giacometti.
Museum des 20. Jahrhunderts / Galerie Winter.

1986 Es war in einer sternenhellen Herbstnacht im Jahre 1204. Per Kirkeby.
Museum des 20. Jahrhunderts.

1986 Husch, Husch, der schönste Vokal entleert sich. Meret Oppenheim.
Museum des 20. Jahrhunderts, Kinosaal.

1987 Geschwindigkeit und Verschwinden. Paul Virilio.
Museum des 20. Jahrhunderts.

1987 Der Vogelpaul. Paolo Uccello.
Museum des 20. Jahrhunderts, Kinosaal.

1987 Pelz und Haut, Lumpen und Haar, Metall und Blut. Michelangelo Caravaggio.
Museum des 20. Jahrhunderts, Kinosaal.

1987 Journal der Orte. Artaud : Van Gogh.
Museum des 20. Jahrhunderts / Narrenturm, Allgemeines Krankenhaus.

1987 Legende von einem Holz. Piero della Francesca.
Hochschule für angewandte Kunst.

1988 Der Analytiker und die visuellen Künste. Jacques Lacan.
Galerie Faber.

1988/89 Das Echo und sein Maler. Jean Le Gac.
Palais Clam Gallas, Salle de Bal / Romanschwemme, Wien Simmering / Galerie Faber / Palais Palffy.

1989 Die Fetische des Travestie. Pierre Molinier.
Galerie Faber.

1989 Das Leben der infamen Menschen. Wien um 1700.
Palais Clam Gallas, Salle de Bal.

1990 Von der Berührung des Modells zum Vulkanismus der Leidenschaften. Paul-Armand Gette.
Galerie Faber.

1990 daedalus – daedalus. Die Erfindung der Gegenwart.
Museum Moderner Kunst, Palais Liechtenstein / Südbahnhof / Palais Clam Gallas, Salle de Bal.

1991 Nunga und Goonya. Nikolaus Lang.
Galerie Faber / Galerie Insam.

1992 Die Stadt und die Wildnis. Wien 1000–1500.
Galerie Faber / Stock-im-Eisen-Platz / Basiliskenhaus, Schönlaterngasse.

1992 Der Tod des Orpheus.
steirischer herbst, Alpheta-Halle des Arland Geländes, Graz.

1993 Mnemosyne. Aby Warburg.
Akademie der bildenden Künste / Deichtorhallen, Hamburg.

1993/94 Die Blumen des Bösen. Eine Geschichte der Armut in Wien, Prag, Budapest und Triest in den Jahren 1693 bis 1873.
Österreichische Nationalbibliothek, Prunksaal / Österreichisches Museum für Volkskunde / Galerie Faber.

1995 Mit ihren weissen Gliedern und ihrer Anmut, ebenso weiss. Knaben und deren Ablichtung im Wien des 19. Jahrhunderts.
Galerie Faber.

1996 Denn die Gestalt dieser Welt vergeht. Eine Geschichte Wiens – aufgezeichnet von dem Altertumsfreunde Aloys Bergenstamm (1752–1821).
Österreichische Nationalbibliothek, Augustiner-Lesesaal.

1996 Maurer, Kalk und Sand oder der Maler Franz Anton Maulbertsch.
Österreichische Akademie der Wissenschaften, Johannessaal / Eine Landpartie zu den Fresken von F. A. Maulbertsch in Nikolsburg, Pöltenberg, Brünn, Kremsier, Halbturn, Györ, Székesfehérvár, Sümeg, Papa und Szombathely.

1996 Museum vom Menschen oder wo sich Kunst und Wissenschaften wiederfinden.
Österreichische Nationalbibliothek, Oratorium.

1996 Weiße Wäsche – silbriger Rauch – schwarzer Ruß. Wien: Eine Archäologie der Hauptstadt im 19. Jahrhundert.
Österreichische Nationalbibliothek.

1997 Farbe der Dämmerung. Gerald Zugmann.
MAK, Galerie.

1998 Aus dem entschwundenen lieben alten Wien. Der Wasserfarbenmaler Karl Blaschke.
Rathaus, Volkshalle.

1998/99 Mozarts Zauberflöte im Stimmengewirr der Aufklärung.
Prag, Messepalast.

2000 Gruß vom Krampus. Die Sammlung Ernst Brodträger.
Österreichisches Museum für Volkskunde.

2001/02 Alban Berg, Hanna Fuchs und ein Streichquartett, genannt Lyrische Suite. (projektiert für das Kunsthistorische Museum, nicht verwirklicht).

2003 Ach, über alles, was da blüht, ist deine Blüte wonnevoll. Johannes Brahms, Opus 32.
Theatermuseum, Eroica-Saal.

2004 Bergpredigt. Anton Webern.
Wienbibliothek, Ausstellungskabinett, Rathaus.

2005 Erotik und Tod in den Mythen von Dionysos und Orpheus.
Österreichische Nationalbibliothek, Oratorium.

2005 Das Couvert der Vögel. Friederike Mayröcker.
Mumok, Lounge.

2005 Die Europäer und Aufstieg und Fall der Versklavung von Afrikanern auf dem amerikanischen Doppelkontinent.
Österreichische Nationalbibliothek, Lesesaal.

2006 daedalus notes 1984–2006.
Filmarchiv Austria, Metro Kino.

2006 Mozart, Maulbertsch, Messerschmidt.
Albertina, Musensaal.

2007/08 Ein roter Rubin im Diadem der Moderne. Aby Warburg.
Albertina, Studiensaal / Budapest, Universität.

2008 Alphabet der Liebe. Amedeo Modigliani.
Frisiersalon Er-Ich.

2009/2010 Alban Berg, Hanna Fuchs und ein Steichquartett, genannt Lyrische Suite.
Wiener Vorlesungen.

2011/2012 Antonio Vivaldis letzter Sommer.
Karlsplatz, Technische Universität, Wien.

 

Werkverzeichnis Gerhard Fischer

Archiv Daedalus

Wienbibliothek · Handschriftensammlung »

 

Daedalus Schenkungen

Das Archiv der Transmedialen Gesellschaft Daedalus wurde von Gerhard Fischer als Schenkung an die Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Jahr 2001 und 2004 übergeben. Das Archiv umfaßt 93 Autographenmappen, Cahiers, Typoskripte, internationale Korrespondenz, Fotopositive und Fotonegative, Ektachrome, Dias, Tonbänder und Materialien der Daedalus Projekte 1984–2000. Anzahl der Archivboxen: 44, Anzahl der Autographenboxen: 3. Das Daedalus-Archiv beinhaltet nicht nur Materialien über die auch weit über Wien und Österreich hinaus Aufmerksamkeit erregenden Ausstellungen, Raum-und Urbaninstallationen zu Gebieten der klassischen Moderne, Gegenwartskunst, französischen Philosophie, Kulturwissenschaft und Wien-Ethnologie und Wien-Archäologie, sondern erlaubt auch tiefe Einblicke in die Denk-und Arbeitsweise von Gerhard Fischer, eines "magischen Spurensuchers im Grenzbezirk von Wissenschaft und Kunst" (Ulrich Weinzierl, Frankfurter Allgemeine Zeitung).

Aby Warburg. Mnemosyne-Atlas. Schenkung an das Albertina Museum im Jahr 2001, mit dem Vertragspassus einer Neuaufstellung des Atlas in der Albertina 2008. Die Rekonstruktion des Mnemosyne-Atlas erfolgte durch Daedalus im Jahre 1993. Der Bilder-Atlas wurde vom 25.1.1993–13.3.1993 in der Akademie der bildenden Künste – Wien erstmals ausgestellt. Die Rekonstruktion des Atlas umfaßt 63 Bildtafeln mit unterschiedlich montierten Schwarz-Weiß-Fotos, insgesamt 1180 Fotografien zum „Nachleben der Antike“.

Schenkung an das Filmarchiv Austria im Jahr 2006: 13 16mm-Filmrollen Die Blumen des Bösen (Muster, Negative, Positive, Farbe, ungeschnitten) und drei Tonbänder Die Blumen des Bösen. Die überlassenen 16mm Filme (Kamera: Manfred Oppermann, Bildregie: Gerhard Fischer) zeigen die Aufstellung der Objekte der gleichnamigen Ausstellung im Jahre 1993 im Österreichischen Volkskundemuseum und in der Galerie Faber.