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Martin Engelbrecht
Titelblatt aus »Verzeichnus deren von einer Hochlöblichen Privilegirten Kay(serlich) König(lichen) Todten Bruderschaft übernohmenen Malleficanten 23. Juny 1702–26. August 1830« · Österreichische Nationalbibliothek, Sammlung von Handschriften und alten Drucken, Cod. CVB 8363.

Homo bulla, der Mensch ist nur eine Seifenblase. Die bittersüße Melancholie der Vanitas durchzieht das ganze 17. und 18. Jahrhundert, die Beispiele sind zahlreich und bekannt.
Die Notizgruppen der Handschrift liefern eine Momentaufnahme einer Bevölkerung ohne gesellschaftliche Bindungen. Holzschnittartig blitzen die sonst so schwer fassbaren Seelen auf, die sich außerhalb der vernünftigen Sphäre von Redlichkeit, Harmonie und Ehrbarkeit gestellt haben.
Das Dokument registriert Mörder, Diebe, Räuberbanden, Deserteure, Gotteslästerer, Zuchthäusler, Gestrandete – Blumen des Bösen, die dem Humus abendländischer Verbote entstammen, dem der Sexualität und Kriminalität. Wälder sind Schlupfwinkel, Wege sind Fluchtwege, Häuser sind Verstecke. Die Herumstreifenden kennt man aus einem Blick, einem Gang, einem Lächeln. Mit pedantischer Feder hält der Protokollant in wenigen Zeilen oder etlichen Seiten fest, was ermöglichen soll, das Wesentliche zu fixieren, die Opfer und die Täter zu kennen. Man muss dieses Register langsam lesen, der Sprache des 18. Jahrhunderts hinterherdenken, in der das Leben fremder, unbegreiflicher Wesen wie unter einer Glasglocke konserviert erscheint.
Der Ton des 200-seitigen Textes ist außergewöhnlich trocken und funktional. Wie Momente der Entrückung tagtraumgleich die Wirklichkeit durchsetzen, ist die Handschrift bebildert. Eine bittere Klage über die Vergeblichkeit des Seins hebt an. Das geöffnete Buch lässt einen kolorierten Stich mit der moralisierenden Inschrift »Was du thust, so bedencke das Ende, so wirst du nimmermehr Übels thun« erkennen. Eine zarte Kugel aus Seifenwasser ist ebenso wie der Totenkopf, die erloschene Kerze und das Stundenglas Zeichen der Vergänglichkeit. Auch die Blumen in der Vase sind (nach Psalm 103, 15–16, wo von den bald verdorrenden Blumen auf dem Feld die Rede ist) ein Vanitas-Symbol. Durch alle Stilllebenmomente zieht sich die mahnende Erinnerung an Tod und Vergänglichkeit: Homo bulla, der Mensch ist nur eine Seifenblase.